Wenn es eines weisen Menschen bedarf,
der uns in dieses Leben hinein begleitet,
bedarf es eines ebenso weisen Menschen,
der uns aus diesem Leben hinausbegleitet.
Michel de Montaigne
Es ist Sonntag, der 20. Oktober 2002, 7.35 Uhr.
Das Handy läutet.
Ich kann nicht so schnell aufstehen.
Wird schon nicht so dringend sein, an einem Sonntag!
Ich schaue aus dem Fenster.
Meine Schwester fährt mit ihrem Auto rasch aus der Einfahrt.
Wird wahrscheinlich Gebäck kaufen fahren.
Nach 10 Minuten ein Anruf!
An diesem Tag veränderte sich unser aller Leben.
Wir, das sind mein Mann Reinhold, damals 40 Jahre, unsere Kinder Christina, damals 10 Jahre, Katja, damals 8 Jahre, Johanna, damals 2 Jahre und natürlich auch für mich, Andrea, damals 32 Jahre.
Unser über alles geliebte Baby Tobias, er ist 8 Monate alt, ist von seinem Nachtschlaf nicht mehr aufgewacht.
An diesem Sonntag schlief er bei seiner Oma, da wir Verwandten bei der Apfelernte halfen. Am Samstagabend wollte ich Tobias bei seiner Oma abholen, aber er schlief schon in seinem Gitterbett, warum sollte ich ihn da noch aufwecken?
Die Erinnerungen an diesen Sonntag nach dem Anruf:
dass Tobias nicht mehr atmet,
mein Papa schon ins Krankenhaus unterwegs ist,
mit Tobias am Beifahrersitz liegend,
immer noch auf ein Heben und Senken des Brustkorbes wartend,
sind auch jetzt, nach 9 Jahren, noch nicht vollständig da.
In der ersten Zeit sucht vor allem die kleine Johanna ihren Bruder, mit dem sie die letzten Monate, Gitterbett an Gitterbett, Nase an Nase eingeschlafen und aufgewacht ist.
Als Katja die Nachricht vom Tod ihres Bruders erfährt, lässt sie einen „markerschütternden“ Schrei los, diesen Schrei, dieses Gefühl, bis ins Mark zu erschüttern, werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen.
Christina, die älteste, die Zweitmami für Tobias, ist sprachlos, es laufen ihr die Tränen über die Wangen, sie kann nichts sagen.
Da bemerke ich das erste Mal, obwohl auch ich Tobias suchen sollte, schreien sollte, sprachlos sein sollte……………… ich bin stark,
aus meinem Glauben heraus?
Weil ich jetzt für die anderen Kinder und für meinen Mann da sein muss?
Weil ich meiner Mama und meinem Papa versichern muss, es hätte auch bei mir zu Hause passieren können, sie trifft keine Schuld?
Zwei Jahre später absolviere ich die Hospiz- Grundausbildung in St. Stefan ob Stainz, und weiß, hier kann ich meine entdeckte Stärke gut einsetzen, bei der Begleitung von sterbenden und von trauernden Menschen.
Andrea Zügner-Lenz